Reportage: Schnell und nah – alles da!

Ich sitze am Schreibtisch. Mittagspause. Mit leicht gestressten Fingern schneide ich meinen Berliner Jung (ein Mehrkorn-Brötchen einer hiesigen Bäckerei . Ich weiß, ist ein komischer Name) auf. Für mehr als ein belegtes Brötchen wird’s heute – mal wieder – nicht reichen. Danach noch einen schnellen Kaffee. Der nächste Termin rückt näher. Wieder klingelt das Telefon. Scheiß drauf‘, ich lass‘ es klingeln und den Anrufbeantworter den Sekretär spielen. Pause muss sein. Zwangspause könnte man meinen. Wenigstens die Viertelstunde für den Kaffee nehme ich mir. Was für andere die Kippe am Morgen und danach (nach dem Essen) ist, ist für mich das selige koffeinhaltige Heißgetränke. Aber auch diese kurze halbe Stunde einer Verschnaufpause lösen nicht meine innere Unruhe.

Ist das Stress? Klar, was sonst. Gefangen im Strudel der Arbeit als philosophische Erklärung. „Hummeln im Arsch“ würde es meine bessere Hälfte nennen. Egal welchen Namen dieses ungeliebte Kind bekommt, für mich gibt’s nur eine Therapie: Ich muss raus!

Ich stehe in der Küche. Feierabend. Mit immer noch leicht gestresste Fingern kippe ich das Getränk meiner Wahl in die Trinkblase. Gleichzeitig verputze ich meinen Energieriegel, denn das Brötchen zum Mittag wird nicht reichen. Danach noch einen schnellen Schluck aus der Mineralwasserflasche. Die Bike-Klamotten habe ich schon an. Die Tasche mit dem nötigsten Utensilien Helm, Handschuhe, Bike-Brille und so weiter steht griffbereit an der Tür. Habe ich alles? Handy? Schlüssel? Jetzt noch schnell zur Garage und das Rad ins Auto werfen. Endlich geht’s los.

Auf der Fahrt zu meinem Heimatrevier komme ich langsam runter. Ab jetzt läuft’s. Was immer ich in meiner Hektik zwischen Feierabend und dem Weg zur Zeche Ewald – meinem Ausgangspunkt für meine Touren – zu Hause vergaß, einen Rückweg gibt’s nicht mehr. Mein Zeitfenster ist eng.

Zeit. Zeit haben. Zeit nehmen. Zeit bekommen. Manchmal denke ich, dass Zeit die wichtigste Währung heutzutage überhaupt ist. Mit Familie und Job ist Zeit für’s Hobby Mountainbike in seltenes Gut geworden. Ich versuche dabei immer, den besten Kompromiss zu finden, damit die Zeit mit der Familie nicht zu kurz kommt. Wer nicht pünktlich zum Büroschluss den Stift fallen lassen kann und auch Termine in den Abendstunden oder am Wochenende kennt, der weiß vielleicht was ich meine. Und allgemein ist ja auch bekannt, dass Bewegung am besten gegen Stress hilft.

Mittlerweile bin ich am Parkplatz der Zeche Ewald angekommen. Kurz Luft in den Reifen und Dämpfer gecheckt, die Tracking-Apps gestartet und ab dafür. Ab jetzt gilt’s den Kopf zu entschleunigen, das Leben zu spüren und vor allem… Spaß haben! Meine Tour richtet sich nach meinem Zeitfenster. Ob ich es einhalte ist mir dann aber auch egal. Sonst wäre ja alles für die Katz. NCIS-Fans würde ich an dieser Stelle gerne an Regel 6 verweisen.

OK, das klingt jetzt alles nach Jammern. Wird Zeit, dass ich langsam auf den Punkt komme. Doch der zuvor erwähnte Kontext ist wichtig, denn so lässt sich einer der vielen Vorteile des Ruhrpotts besser erklären. Im Pott ist alles nah zusammen. Hier grenzen Stadt an Stadt. Und der Pott ist grüner als man denkt. 

Ich rolle nach einer Uphill-Passage über ein Plateau und genehmige mir einen Schluck aus der Trinkblase. Mein Blick schweift in die Ferne. Dort wo der Ruhrpott lebt mit all seinen schönen und hässlichen Seiten, und den künstlichen Bergen, die wir Halden nennen. Ich schaue nach Westen und suche die Orte, die ich schon mit dem Mountainbike erfahren habe. Die Landmarken auf den Halden sind meine Gipfelkreuze. Irgendwo dort im Dunst des Pott’s erblicke ich als erstes den Tetraeder auf der Halde Beckstraße. Dort war ich zuletzt bei einer geführten Tour mit Mountainbike-Ruhrgebiet über sieben Halden. Wir waren einen ganzen Tag unterwegs und erkämpften uns die Aussicht von den Halden Schurenbach in Essen, Beckstraße in Bottrop, Halde 22 in Gladbeck, Rungenberg und Rheinelbe in Gelsenkirchen und Hoheward und Hoppenbruch in Herten. Rund 75 Kilometer waren wir unterwegs und 750 Höhenmeter standen auf der Bilanz. Die Strecke zwischen den Halden führte unter anderem durch Wäldern und am Kanal entlang. Wenn’s hochkam, dann fuhren wir vielleicht nur 5 bis 10 Prozent der Strecke mal über Straßen. Für mich war die Tour bislang der eindrucksvollste Beweis, wie viel Mountainbike man in der Metropole Ruhrpott fahren kann, ohne sich dabei viel über Straßen quälen zu müssen. Der Fahrtweg vom meiner Haustür bis zum Startpunkt lag übrigens bei gut 20 Minuten. Seit dem ist die Tour für mich eine jährliche Pflichtveranstaltung.

Auf Tour mit Mountainbike-Ruhrgebiet

Apropos Pflichtveranstaltung: Dazu gehört auch die Teilnahme an den 24h von Duisburg. Unser Team besteht aus Hobby-Biker die oft und gerne im Pott unterwegs sind. Die Strecke ist zwar nicht gerade technisch anspruchsvoll, die Atmosphäre aber einmalig. Mit meinen Teamkameraden ging’s auch außerhalb des Rennens ab und an auf Tour. Einmal haben wir von Moers aus die Halden Rheinpreussen, Pattberg – beide in Moers – und Norddeutschland in Neukirchen-Vluyn unsicher gemacht. Alle hintereinander. Ein anderes Mal ging’s vom Duisburger Stadtwald aus auf eine Runde über Mülheim und Essen zurück nach Duisburg. Unsere Tour war gespickt mit Waldwegen, Trails und einem extrem gemütlichen Biergarten direkt an der Ruhr. Biker-Herz: Watt willste mehr!

Jetzt kommt ja das Irre an der Sache. Wir sind hier mitten im Pott. Wir waren mal eines der größten Ballungs- und Industriegebiete. Dreckig, laut, eigentlich ungemütlich. Überall Zechen, Hochöfen, Industrie. Wer seine Wäsche nicht schnell genug von der Leine nahm, durfte sie ein zweites mal waschen. Der Smog gehörte im Winter dazu wie der Schnee. Eigentlich Bäh! Und normalerweise käme ja niemand auf die Idee, dass man hier so gut Mountainbiken kann. Zugegeben, ich war noch nicht in den Alpen. Habe ich natürlich auch noch vor. Doch dafür muss ich stundenlang fahren und einen Urlaub planen. Hier habe ich alles vor der Tür oder muss höchstens eine halbe Stunde fahren.

Runde drei. Ich spüre, dass der Tag lang war und der kleine Anverwandte uns mal wieder viel zu früh aus dem Bett warf. Ich quäle mich den Uphill hoch. Schweiß läuft mir ins Gesicht. Die Beine sind leer und ich muss mit dem inneren Schweinehund heftigst verhandeln, dass ich nicht einfach den schnellsten Weg zurück zum Parkplatz einschlage. Auch ein Vorteil hier: Wenn was ist, ist man immer noch mittendrin. Oben angekommen. Ich höre, wie der warme Sommerwind durch das Horizontobservatorium – so ’ne Art Sonnenuhr und die Landmarke der Halde Hoheward – pfeift. Ein letzter Schluck, Sattel runter und ab in die Downhill-Passage. Noch einmal volle Konzentration.

Feierabend. Ich sitze im Kofferraum meines Autos. Der Puls ist wieder normal. Die Beine sind ausgepowert. Der Körper ist wieder glücklich, der Kopf entschleunigt. Ein paar Minuten gönne ich mir gerne und schaue mir die Menschen an, die an mir vorbei kommen. Da sind andere Mountainbiker, Spaziergänger, Jogger, Walker, verliebte und solche, die es vielleicht bald sind. Fotografen machen sich auf den Weg auf die Halde um – wahrscheinlich zum millionsten Mal – die Fördertürme an im Licht eines Sommerabends zu knipsen. Auch für diese Menschen ist im Pott alles nah – und alles da!

Glück auf!